IN/OUTsiderART


Studierende der Kunstpädagogik im Dialog mit der Sammlung Prinzhorn

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Grundlage von Ausstellung und Publikation „IN/OUTsiderArt“ bildete ein Projektseminar, das im Wintersemester 2011/12 am Lehrstuhl für Kunstpädagogik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg in Zusammen- arbeit mit der Sammlung Prinzhorn stattfand. Das Seminar wurde von Tobias Loemke und Prof. Dr. Susanne Liebmann-Wurmer geleitet.

In der Sammlung Prinzhorn werden Werke psychiatrieerfahrener Menschen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis heute aufbewahrt. Diese Arbeiten entstanden außerhalb des gewöhnlichen Kunstbetriebs und werden deswegen als Outsider Art bezeichnet. Die künstlerischen Werke der gesellschaftlichen Außenseiter zeigen allesamt ungewöhnliche bildnerische Ausdrucksformen und weisen einen starken biografischen Bezug auf. In ihren Arbeiten spiegeln sich wesentliche Fragestellungen menschlicher Existenz.

Als Titel von Ausstellung und Publikation wählten wir „IN/OUTsiderArt“, weil wir es im Kontext pädagogisch geleiteter bildnerischer Prozesse interessant finden, den Grenzen des Kunstfeldes nachzuspüren. Wie schnell ändert sich durch einen anderen Blickwinkel doch der Grenzverlauf der Kunst: Inspirierten manche Arbeiten psychiatrieerfahrener Künstler der Sammlung Prinzhorn nicht viele bedeutende Künstler des 20. Jahrhunderts und stehen somit im Zentrum der Kunst? Befinden sich kunstpädagogisch begleitete Seminarergebnisse nicht grundsätzlich außerhalb?

Zu Beginn des Seminars erhielten die Studierenden eine Vorauswahl von Reproduktionen, die Arbeiten aus der Sammlung Prinzhorn zeigten. Sie sollten sich dasjenige Werk auswählen, das ihr Interesse am meisten weckte. Schließlich reiste das gesamte Seminar nach Heidelberg, um sich die Arbeiten der psychiatrieerfahrenen Künstler im Original zu betrachten. Nach der Exkursion entwickelten die Studierenden eine eigenständige bildnerische Arbeit, die sich auf das von ihnen ausgewählte Werk aus der Sammlung Prinzhorn bezieht. Dabei sollte in der bildnerischen Antwort der Studierenden ein konkreter Dialog mit dem Prinzhorn-Werk sichtbar werden.

Melanie Sauer interessierte sich für das Jäckchen, das Agnes Richter am Ende des 19. Jahrhunderts mit etlichen Wörtern benähte. Das Jäckchen wirkt wie ein Ornat, aber auch wie eine zweite Haut. Durch die Konfrontation mit diesem Kleidungsstück konnte Melanie Sauer an eine eigene Ressource anknüpfen: Vor ihrem Studium absolvierte sie eine Schneiderinnenlehre, die durch den Dialog mit Agnes Richter eine neue Bedeutung erhielt. Souverän nähte Melanie Sauer eine Jacke aus weichem Flanell, die sie innen mit kostbaren Sätzen aus ihrem Leben bestickte. Dabei brachte sie besonders sensible Botschaften in verborgenen Bereichen der Jacke unter. Sie verwies zudem mit verschiedenen Zeichen auf schutz- und wärmebedürftige Bereiche ihres Körpers.

Alexa Kaiser begann ihren Dialog ebenfalls mit dem Jäckchen von Agnes Richter. Während sich ihre Kommilitonin in erster Linie für die bestickte Kleidung interessierte, griff Alexa Kaiser den Gedanken der zweiten Haut auf. Sie klebte aus transparentem Klebeband Plastikbahnen, aus denen sie eine durchsichtige Jacke fertigte. Diese gleicht einer hermetischen, aber zugleich transparenten Membran zwischen ihrem Körper und der Außenwelt. „Bei meinem Kleidungsstück interessiert mich das handwerkliche Tun. Das Material hat eine Analogie zu Stoff. Ich webe mit Tape. Es fühlt sich an wie eine zweite Haut, aber es geht nicht um mich als Person. Ich will wissen, was es bedeutet, wenn man so eine Kleidung herstellt“, berichtet Alexa Kaiser.

Bianca Kennedy experimentiert seit geraumer Zeit mit Stop-Motion-Filmen. Sie suchte sich Katharina Detzel aus, eine Frau, die in einer psychiatrischen Anstalt eine nahezu lebensgroße Puppe eines Mannes schuf. In ihrem Film entwickelte Bianca Kennedy ein räumliches Gegenüber, in das man nur allzu gern für eine gewisse Zeit schlüpfen möchte, um das tiefe menschliche Verlangen nach prallem Leben zu stillen. Bianca Kennedy stellt fest: „Die Tiefen des menschlichen Gehirns sowie unseres Erinnerungsvermögens sind wichtig in meiner Arbeit. Sämtliche Szenen entstehen und spielen im Gehirn“.

Franziska Bouillon bezog sich in ihrer Arbeit auf das Blatt „Ich will versuchen“ von Malvine Schnorr von Carolsfeld, in dem die Künstlerin durch Kreiszeichnungen Kontakt zu ihrem verstorbenen Mann aufnahm, der ihr seinerseits in diesen Zeichnungen antwortete. Franziska Bouillon umkreist in und über ihre Fotografien alles, was in ihrem Leben von Bedeutung ist. Sie musste schmunzeln, als sie entdeckte, in welchen Situationen ihr überall das Moment des Umkreisens begegnete.

Pia Lilienstein griff die Idee des Perpetuum Mobile von Josef Forster auf. Deswegen erstellte sie zartgliedrige Modelle aus Kupferdraht, die sich drehen konnten. Bald wurde sie jedoch auf die Porträts des Künstlers aufmerksam, die zwar zurückhaltender gestaltet sind, aber zugleich eine ungewöhnliche Materialität aufweisen. So konnte sie eigene Darstellungen des menschlichen Antlitzes weiterentwickeln. Pia Lilienstein konstatiert: „Ich würde gern an den Masken weiterarbeiten, weil Schafswolle, mit der ich arbeite, ein spannendes, menschennahes Material ist. Später möchte ich ein Drahtgestell so fotografieren, dass es schwebend wirkt und an Forsters Durch-die-Luft-Fliegen erinnert“.

Michael Grebner ließ sich vom „Schweißwunder in der Einlegesohle“ von Carl Lange inspirieren. Allerdings liest Michael Grebner nicht in Schuhsohlen, sondern in Seifenblasen, die er über einen Diaprojektor an die Wand wirft. Die Projektionen ihrerseits spiegeln sich in seinen malerischen Experimenten. Die gedanklichen Assoziationen, die ihm während des künstlerischen Prozesses kommen, sind Bestandteil seiner Arbeit. „Die Seifenblasen ersetzen das Schweißtuch. Sie gleichen der Kristallkugel einer Wahrsagerin. Ich verstehe Lange so, dass seine Arbeiten zwischen phantasievollem Tun und Halluzinationen changieren“.

Olivia Katzbach beschäftigte sich ebenfalls mit Carl Lange. Sie schlug jedoch einen anderen Weg ein als Michael Grebner. Dabei ging sie der Frage nach, in welchen Bereichen unseres Lebens wir identifizierbare Spuren hinterlassen. Im Gegensatz zu den personalisierten Abdrücken, die sie in ihrer fotografischen Arbeit im Neuschnee machte, sind unsere Spuren im Internet keineswegs flüchtig.

Tamara Lorenz setzte sich mit den schlichten Collagen von Josef Sirch auseinander, der feinfühlig ausgeschnittene Papiere auf den Untergrund nähte und zeichnerisch ergänzte. Ergebnis ihres Dialogs ist das dicht gewebte Abbild einer Katze, die rätselhaft aus der Zeichnung blickt: „Curiosity killed the cat“. Lässt sich jemals ergründen, was in Sirch vor sich ging?

Sandra Müller suchte sich die zart gemalten Bilder von Clemens von Oertzen aus. Seine samtig weiche Malweise, mit der er seine Farbformen gestaltete, übertrug sie auf eigene Bilder. Dies gelang nicht zuletzt, weil das Weiche und Geborgene in ihrem eigenen Leben seit der Geburt ihres Sohnes eine besondere Rolle spielt. „Lebensfreude ist auch existentiell. Diese Erkenntnis hat mir gut getan. Das Bekenntnis zu Farbe und zur Lebensfreude war ausschlaggebend für die Arbeit. Das tagebuchartige, kontinuierliche Arbeiten ist für meinen Arbeitsprozess wichtig“.

Miriam Seifert wählte sich ein kleines farbiges Blatt von Adolf Wölfli. Sie sah in seinen Arbeiten ein lebendiges Formenspiel zwischen freien und festen Flächen, die einerseits Sicherheit schenken, aber auch Freiheit beschneiden können. Da sie selbst dieses Spannungsfeld kennt, hat sie sich auf dieses bildnerische Prinzip kon-zentriert. Das Ergebnis sind Bilder, die sie an eine Reise nach Südamerika erinnern.

Anna-Rieke Cierson konzentrierte sich auf die Text-Zeichnungen von Barbara Suckfüll, die trotz lesbarer Schrift rätselhaft bleiben. Das unverständlich Geschriebene entwickelte sie in ihrer Arbeit weiter. Sie schrieb das Wort „Entrückt“ in Braille-Schrift, vergrößerte es aber so, dass es ein Blinder nicht mehr mit seinen Fingerkuppen le-sen kann. „Mir geht es um Irritation, um Entrückt-Sein. Dadurch, dass die Braille-Schrift vergrößert ist, lässt sie sich nicht entziffern. Zuerst wählte ich ‚Verrückt-Sein‘, das aber eine negative Konnotation hat. ‚Entrückt-Sein‘ ist offener und hat eine Verbindung zu meinem Bild. Das Bild ist durch die Vergrößerung von seiner Lesbarkeit entrückt.“ Zugleich knüpfte Anna-Riecke Cierson in ihrer Formensprache an vorangegangene, konkrete Arbeiten an, die sie durch eine neue inhaltliche Ebene ergänzte.

Lukas Moßdorf ging von den fein ziselierten Zeichnungen August Natterers aus. Ähnlich der Übermalung eines Natterer-Werks durch Arnulf Rainer, das er in der Ausstellung „Gespenster, Magie und Zauber“ im Neuen Museum Nürnberg sah, ergänzte er Natterers „ausgemergelte“ Bildsprache durch einen starken körperlichen Impuls. „Zum Ton bin ich über das Körperliche gekommen. Malerei war das falsche Medium. Ton liegt mir sehr. Ich kann in diesem Material schnell Formen mit großer Leichtigkeit finden“. Laura Tröster beschäftigte sich mit den „Rauminstallationen“ von Marie Lieb, die mit Streifen aus zerrissenen Bettlaken magische Zeichen auf den Boden ihres Zimmers legte.

Laura Tröster nimmt in einer Performance eine Toilette in Besitz und verbindet sich mit diesem privaten Rückzugsort. „Durch eigenes ‚Ausdrücken‘ gibt man dem Raum eine persönliche Note und bricht das Kalte der Toilette auf. So wird die Toilette zum privaten Raum. Er wird persönlich geprägt. Die Toilette ist der einzige Raum in öffentlichen Gebäuden, wo man allein ist und seine Ruhe hat“.

Der Dialog mit den Arbeiten aus der Sammlung Prinzhorn entfachte eine intensive künstlerische Arbeit bei den Studierenden. Im Gegenüber des „Fremden“ konnte Eigenes klarer erkannt werden.

Das zur Ausstellung erscheinende Buch folgt nicht nur inhaltlich, sondern auch formal dem dialogischen Prinzip. Die Arbeiten aus der Sammlung Prinzhorn sind den jeweiligen Arbeiten der Studierenden gegenübergestellt. So lässt sich eindrücklich den Dialogen der Studierenden nachspüren.

Publikation:

Tobias Loemke und Susanne Liebmann-Wurmer
IN/OUTsiderArt. Studierende der Kunstpädagogik im Dialog mit der Sammlung Prinzhorn.
FAU University Press. Erlangen 2012 (64 Seiten)
ISBN 978-3-941871-10-6 (15,- €)

Das Buch zur Ausstellung und zum Projekt kann über die Universitätsbibliothek bezogen werden. Es erscheint dort als erster Titel des Universitätsverlags "FAU University Press".
Weitere Hinweise bei UB-Startseite, alternative Bestellmöglichkeit bei amazon.
Daneben kann das Buch als PDF-Version bei OPUS, dem Hochschulschriftenserver der Universität Erlangen-Nürnberg heruntergeladen werden. 

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